Die Schützenscheibe am Waldrand
Es war ein kühler Frühlingsmorgen. Eva und Hans fuhren mit einem geheimnisvollen Paket auf dem Rücksitz ihres Wagens, durch die sanften Hügel des Voralpenlands. Die Sonne stand noch tief, und über den Feldern hing ein leichter Nebelschleier. Sie waren unterwegs zu einem besonderen Mann: Evas Vater und Hans’ Schwiegervater, der an diesem Tag seinen 90. Geburtstag feiern sollte.

Der alte Ludwig war ein Mann der Tradition. Ein Leben lang hatte er als Förster gearbeitet, jeden Pfad im nahegelegenen Wald kannte er mit geschlossenen Augen. Und noch heute, trotz seines Alters, spazierte er fast täglich am Waldrand entlang, wo er oft einen Fasan aufscheuchte, der dort sein Revier hatte.
Für diesen besonderen Geburtstag hatten sich Eva und Hans etwas ausgedacht, das nicht nur ein Geschenk war, sondern eine Hommage an ein Leben im Einklang mit der Natur – und an seine Leidenschaft fürs Schützenwesen. Ludwig war nämlich nicht nur Förster gewesen, sondern auch langjähriges Mitglied des Schützenvereins. Zahlreiche Pokale und alte Schützenscheiben schmückten bereits die Wände seiner Jagdhütte. Doch diese neue Scheibe sollte etwas ganz Besonderes werden.
Als sie auf dem Hof ankamen, saß Ludwig bereits auf der Bank vor dem Haus, sein treuer Dackel Bruno zu seinen Füßen. Er blickte auf, als das Auto anhielt, und seine Augen leuchteten – nicht nur vor Freude über den Besuch, sondern auch aus Neugier.
„Was habt ihr denn da?“, fragte er, als Hans das große, runde Paket aus dem Kofferraum hob.
Eva lächelte geheimnisvoll. „Etwas, das dich an deine liebsten Spaziergänge erinnern soll.“
Langsam, fast ehrfürchtig, entfernte Ludwig das Packpapier – und erstarrte. Vor ihm lag eine handgemalte Schützenscheibe, kunstvoll gestaltet. Im Vordergrund: ein prächtiger Fasan mit glänzendem Gefieder, der gerade aus dem hohen Gras am Waldrand aufschreckte. Im Hintergrund: eine detailgetreue Darstellung seines geliebten Waldes, mit der alten Eiche, unter der er oft Rast machte.
Freudentränen und familiäre Wertschätzung
Am unteren Rand der Scheibe stand in kunstvoller Schrift:
„Zum 90. Geburtstag – Für Ludwig, den Hüter des Waldes – von Eva und Hans.“
Ludwig schwieg einen Moment, und dann wischte er sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe“, murmelte er. „Diese Scheibe… die erzählt mein Leben.“

Am Nachmittag, bei Kaffee und Kuchen, wurde die Schützenscheibe feierlich an der Hütte aufgehängt – genau an der Stelle, wo die Sonne beim Untergehen ihr Licht durch die Baumwipfel warf. Und so wurde sie mehr als nur ein Geschenk. Sie wurde zu einem Symbol für Erinnerung, Liebe und ein gelebtes Leben voller Natur, Treue – und fliegender Fasanen.
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